Dienstag, 6. September 2016

Wer bin ich?

"Vielleicht ist ... die eigentliche Ursache unserer Angst die Tatsache, dass wir nicht wissen, wer wir wirklich sind. Wir glauben an eine persönliche, einzigartige und unabhängige Identität. Wagen wir es aber, diese Identität zu untersuchen, dann finden wir heraus, dass sie völlig abhängig ist von einer Reihe von Dingen: von unserem Namen, unserer 'Biographie', von Partner, Familie, Heim, Beruf, Freunden, Kreditkarten ... Auf diese brüchigen und vegänglichen Stützen bauen wir unsere Sicherheit. Wenn uns all das genommen würde, wüssten wir dann noch, wer wir wirklich sind?

Ohne diese vertrauten Requisiten sind wir nur noch wir selbst: eine Person, die wir nicht kennen, ein verdächtiger Fremdling, mit dem wir zwar schon die ganze Zeit zusammenleben, dem wir aber nie zu begegnen wagten. Haben wir nicht aus eben diesem Grund versucht, jeden Augenblick unserer Zeit mit Lärm und Aktivität zu füllen - egal wie trivial oder öde - , um sicherzustellen, dass wir ja nur niemals mit diesem Fremden in der Stille allein sein müssen?

Deutet dies nicht auf etwas grundlegend Tragisches in unserer Art zu leben hin? Wir leben in einer neurotischen Märchenwelt unter einer angenommenen Identität ... Diese Welt kann wunderbar überzeugend scheinen, bis der Tod die Illusion zerschlägt und uns aus unseren Schlupflöchern treibt. Was wird dann aus uns werden, wenn wir keine Ahnung von einer tieferen Wirklichkeit haben?

Wenn wir sterben, lassen wir alles zurück, vor allem unseren Körper, den wir so sehr geschätzt haben, auf den wir uns blind verlassen haben und den wir so angestrengt am Leben zu halten versucht haben. Aber auch unser Geist ist um keine Spur verlässlicher als unser Körper. Schauen Sie sich Ihren Geist einmal für nur wenige Minuten an. Sie werden sehen, er ist wie ein Floh ... Mitgerissen vom Chaos des jeweiligen Augenblicks sind wir das Opfer der Unbeständigkeit unseres Geistes. Wenn das der einzige Bewusstseinszustand ist, den wir kennen, dann wäre es ein absurdes Glücksspiel, uns im Augenblick des Todes auf diesen Geist verlassen zu wollen."

(Sogyal Rinpoche. Das Tibetische Buch vom Leben und vom Sterben. Ein Schlüssel zum tieferen Verständnis von Leben und Tod)










Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen