Sonntag, 25. Dezember 2016

Ursünde?

"Es ist eine beachtliche Leistung, auf der sündenlosen Paradies-Episode die Idee einer Ursünde aufzubauen, die von so gewaltigem Ausmaß ist, dass sie noch alle Kinder und Kindeskinder Adams und Evas belasten soll. Nun ist diese Erbsünde kein Konzept, das aus der Genesis selbst stammt. Auch im Alten Testament wird nie auf den Sündenfall rekurriert, um die Existenz von Tod, Krankheit oder Leid zu erklären. Erst im Buch des Jesus Sirach (um 175 v. Chr.), das für Juden und Protestanten als apokryph - als nicht zum biblischen Kanon gehörig - gilt, taucht der fatale Satz auf: 'Die Sünde nahm ihren Anfang bei einer Frau, und um ihretwillen müssen wir alle sterben.' Nach der Zeitenwende wurde die Idee richtig populär. In der syrischen Baruch-Apokalypse heißt es: 'Was wird man von der ersten Eva sagen, dass sie der Schlange gehorcht hat, sodass zum Untergang diese ganze Menge geht und Ungezählte das Feuer verschlingt.' Auf christlicher Seite sind Paulus (ca. 5 - 64 n. Chr.) und vor allem der Kirchenvater Augustinus von Hippo (354-430 n. Chr.) für die Karriere der Ursünde verantwortlich. Letzterer ging sogar so weit, sie zur per Geschlechtsakt übertragenen Erbsünde zu erklären. ... Das Konzept der Ursünde, die zu unser aller Erbsünde geworden sein soll, hat in der Genesis keine textliche Basis. Die Ursünde ist eine späte Erfindung. Sie ist Schutt, den wir beiseiteschieben können."

[aus Carel van Schaik & Kai Michel: Das Tagebuch der Menschheit]









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