Freitag, 28. August 2015

Die große Mutter

Bis ins Mittelalter hinein blieb die "fressende", "vertilgende" Kraft der "Großen Mutter" bewußt. Ihr seltsames Symbol innerhalb des Katholizismus waren die Marien-Statuen der Vierge ouvrante: Wenn ihre Flügeltüren geschlossen waren, sah die vierge wirklich aus wie die Jungfrau - das Jesuskind und den Weltapfel in der Hand. Wenn sie sich aber öffneten, sah man in ihrem Leib: Gottvater zwischen den Brüsten und tief verborgen im Uterus: den gekreuzigten Christus und manchmal auch noch die Taube des Heiligen Geistes. Die "Mutter" war größer als sie alle, sie umfaßte und enthielt sie, sie hatte sie buchstäblich gefressen! Kein Wunder, daß die Kirche schließlich derartige Darstellungen verbot!
Keiner schüttelt sich, wenn ihm der Pfarrer den Kelch reicht und sagt: Christi Blut. Und die Oblate: Christi Leib. In diesem Moment trinken und essen wir noch immer, was wir in den Kulturen der "Großen Mutter" Hunderttausende von Jahren lang zu uns genommen haben: Menschenblut und Menschenfleisch. Wir sind darüber geblieben, "was man salopp ein 'Muttersöhnchen' nennt" (Ken Wilber).

[aus Joachim Ernst Behrendt: Das Dritte Ohr]

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